E. Marzi (Hg.): Credo. Une cartographie de la diversité religieuse vaudoise

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Titel
Credo. Une cartographie de la diversité religieuse vaudoise


Herausgeber
Marzi, Eva
Erschienen
Lausanne 2020: Editions Antipodes
Anzahl Seiten
253 S.
von
David Zimmer

Aufgrund des kantonal sehr unterschiedlich geregelten Verhältnisses zwischen Kirche und Staat variieren Bedeutung und Rolle, die den verschiedenen christlichen wie nichtchristlichen Religionsgemeinschaften im staatlichen Gemeinwesen zukommen, von Kanton zu Kanton beträchtlich. Wie Philippe Gardaz 2015 pointiert formuliert hat, ist «Anerkennung» in diesem Zusammenhang «der Schlüsselbegriff, das Zauberwort des schweizerischen Staatskirchenrechts». Doch die Anerkennung von Religionsgemeinschaften kann ganz unterschiedlich ausgestaltet sein, im engeren Sinne namentlich als öffentlich-rechtliche, «grosse» Ankerkennung, wie sie in vielen Kantonen (insbesondere in der deutschsprachigen Schweiz) die sogenannten «Landeskirchen» geniessen, oder als öffentliche, «kleine» Anerkennung, wie sie eine Handvoll Kantone zumindest als Möglichkeit auch für andere als die traditionellen christlichen und jüdischen Religionsgemeinschaften vorsieht. Der Kanton Basel-Stadt, der diesbezüglich eine Vorreiterrolle einnimmt, hat die evangelisch-reformierte, die römisch-katholische und die christkatholische Kirche sowie die Israelitische Gemeinde Basel öffentlich-rechtlich und die Christengemeinschaft, die Neuapostolische Kirche und die Alevitische Gemeinschaft Basel-Stadt öffentlich (kantonal) anerkannt; der öffentlichen Anerkennung der Evangelisch-Lutherischen Kirche Basel und Nordwestschweiz hat der Grosse Rat im Januar 2021 zugestimmt.
Das zu besprechende Buch fügt sich in diese Anerkennungsthematik ein, beschränkt sich jedoch auf den Kanton Waadt und geht das Thema nicht staatskirchen-rechtlich, sondern religionswissenschaftlich an. Dennoch soll zum besseren Verständnis zunächst der juristische Kontext erläutert werden: Mit der neuen Waadtländer Kantonsverfassung von 2003 wurden die evangelisch-reformierte und die römisch-katholische Kirche öffentlich-rechtlich («comme institutions de droit public dotées de la personnalité morale») und die Communauté israélite de Lausanne et du canton de Vaud (CILV) öffentlich («comme institution d’intérêt public») anerkannt. Die öffentliche Anerkennung weiterer Religionsgemeinschaften ist in § 171 KV ausdrücklich vorgesehen und wird im Ausführungsgesetz von 2007 (BLV 180.51) und im Ausführungsreglement von 2014 (BLV 180.51.1) ausführlich geregelt. So müssen Religionsgemeinschaften, die eine Anerkennung als Institution öffentlichen Interesses anstreben, kantonal organisiert sein, eine mindestens 30-jährige Präsenz im Kanton nachweisen, religiöse Aktivitäten auf dem gesamten Kantonsgebiet anbieten, eine soziale und kulturelle Funktion erfüllen, sich für den gesellschaftlichen und religiösen Frieden einsetzen, am interkonfessionellen/-religiösen Dialog teilnehmen, die schweizerische Rechtsordnung, die Grundrechte und demokratische Prinzipien respektieren sowie finanzielle Transparenz gewährleisten. Der mehrjährige Anerkennungsprozess beginnt mit der Unterzeichnung einer Verpflichtungserklärung durch die antragstellende Religionsgemeinschaft und endet mit dem Inkrafttreten eines kantonalen Gesetzes, das für jede öffentlich anerkannte Religionsgemeinschaft separat erlassen werden muss und gegen welches das Referendum ergriffen werden kann. Der Detaillierungsgrad der gesetzlichen Bestimmungen und die Voraussetzungen für eine öffentliche Anerkennung sind also reichlich hoch. Zudem hat eine öffentliche Anerkennung in erster Linie gesellschaftliche und symbolische Bedeutung; finanzielle Abgeltungen sind nur für jene Aufgaben vorgesehen, die gemeinsam mit den beiden öffentlich-rechtlich anerkannten Kirchen wahrgenommen werden. Zurzeit sind Anerkennungsgesuche von drei Religionsgemeinschaften hängig: der Fédération des Églises dans le canton de Vaud signataires de l’Accord de Bonn de 1931, in welcher sich fünf anglikanische und die christkatholische Gemeinde im Kanton Waadt zusammengeschlossen haben, der Fédération évangélique vaudoise (FEV) und der Union vaudoise des associations musulmanes (UVAM).
Wie der vorliegende Band festhält, setzt Anerkennung Kenntnis voraus: «Reconnaître une communauté religieuse, c’est d’abord commencer par la connaître.» (11) Wegen unvollständiger Daten zur Religionslandschaft erteilte der Kanton Waadt dem Centre intercantonal d’information sur les croyances (CIC), einer von verschiedenen Kantonen finanzierten, in Genf angesiedelten Stiftung, den Auftrag, sämtliche religiöse Gemeinschaften im Kanton Waadt zu erfassen und zu kartographieren. Die mittels dokumentarischer Recherche, Fragebögen, Telefoninterviews, persönlicher Gespräche, Feldforschung und audiovisueller Dokumentation in den Jahren 2017/2018 durchgeführte Erhebung bildete die Grundlage für eine Ausstel-lung mit dem Titel «Credo» im Lausanner Espace Arlaud im Herbst 2018 und für die gleichnamige, im Herbst 2020 erschienene Buchpublikation, die die Soziologin Eva Marzi hauptverantwortet und weitere Autorinnen mitverfasst haben. Im Unterschied zu den Daten beispielsweise des Bundesamts für Statistik (BFS), die sich primär auf die individuelle Religionszugehörigkeit und -praxis beziehen, werden hier explizit religiöse Gemeinschaften in den Blick genommen, definiert als «groupe[s] de personnes qui partagent les mêmes croyances et se réunissent régulièrement dans le même lieu de culte» (12 + 21). Ein solcher Fokus auf Gruppen statt auf Individuen scheint angesichts der oben skizzierten Anerkennungsthematik im Kanton Waadt durchaus sinnvoll, führt allerdings dazu, dass sich die erhobenen Daten nicht direkt mit den Volkszählungsdaten vergleichen lassen, sondern sich zu diesen bestenfalls komplementär verhalten (11–12). Die Zahl erfasster Gruppen einer bestimmten Religionsgemeinschaft sagt weiter nichts über deren Mitgliederzahl aus. So sind zum Beispiel 3% aller im Rahmen dieser Erhebung erfassten religiösen Gemeinschaften im Kanton Waadt muslimisch, während der Anteil der Musliminnen und Muslime an der Waadtländer Bevölkerung bei 5% liegt (53). Umgekehrt erhalten kleine Gemeinschaften wie einige esoterische oder neoschamanistische Gruppen möglicherweise ein überproportional grosses Gewicht. Insgesamt verwendet die Erhebung einen weit gefassten, deskriptiven statt normativen Religionsbegriff und schliesst nur Gruppen mit hauptsächlicher Onlinepräsenz oder mehrheitlich zahlungspflichtigen Angeboten aus.
Im Rahmen der Erhebung wurden im Kanton Waadt 785 religiöse Gemeinschaften gezählt – das Nationale Forschungsprogramm 58 war 2011 für die ganze Schweiz auf 5734 gekommen –, welche elf grossen religiösen Traditionen bzw. rund 40 Untergruppen zugeordnet werden können und sich durch eine beträchtliche Vielfalt auszeichnen: «Loin de disparaître avec la sécularisation, les collectivités religieuses fleurissent; elles sont nombreuses, actives et diversifiées.» (13) 91% der erfassten religiösen Gemeinschaften sind freilich christlich (52). Das religiöse Mosaik im Kanton Waadt wird im Buch auf verschiedene Weise visualisiert, wobei eine interaktive Karte mit Detailinformationen zusätzlich im Internet verfügbar ist (https://cf-geo.maps.arcgis.com/apps/webappviewer/index.html?id =97c87a226b9c464fb483582092b497b9).
Der Band setzt sich aus einer Einführung (Kapitel 1), religionspolitischen und methodischen Erläuterungen (Kapitel 2–3), einer Übersicht über die empirischen Befunde (Kapitel 4), einem dazwischengeschobenen Fotoessay von Studierenden der ECAL, ausführlichen Porträts der im Kanton Waadt vertretenen grossen religiösen Traditionen, die alphabetisch, nicht systematisch geordnet sind (Kapitel 5), und einer Schlussbetrachtung von Irene Becci zusammen. Im Anhang finden sich unter anderem Erhebungsbögen und eine Bibliographie, jedoch weder ein Abbildungsverzeichnis noch ein Stichwortregister.
Im Vergleich zu ähnlichen Publikationen aus anderen Kantonen (TI: Michela Trisconi De Bernardi, 2007; FR: Institut Religioscope, 2012) adressiert «Credo» eine breitere Öffentlichkeit, was sich nicht zuletzt an der Doppelverwertung in Form einer Ausstellung und einer Buchpublikation zeigt. Das attraktiv gestaltete Buch vermag auch religionswissenschaftlich wenig bewanderte Leserinnen und Leser anzusprechen, wird doch jede der grossen religiösen Traditionen relativ ausführlich – und von Grund auf – vorgestellt. Dadurch kommen allerdings die konkreten im Kanton Waadt vertretenen religiösen Gemeinschaften, die oft lediglich exemplarisch dargestellt werden, etwas zu kurz, was schade ist und dem Buch einen eigenartigen Mischcharakter zwischen wissenschaftlichem Forschungsbericht und populärer Einführung verleiht. Ärgerlich ist ferner der äusserst unsorgfältig gestaltete wissenschaftliche Apparat, insbesondere die vielen fehlenden Literaturangaben und fehlerhaften -verweise. Die Stärke des Buches liegt im unvoreingenommenen ethnographischen Zugriff aufs Thema, der für verschiedene religiöse Gemeinschaften im Kanton Waadt interessante Erkenntnisse zutage fördert.

Zitierweise:
Zimmer, David: Credo. Une cartographie de la diversité religieuse vaudoise, ed. Eva Marzi, avec la collaboration de Knobel, Brigitte; Becci, Irene; Zurbuchen, Aude; Berthet, Chloé, Lausanne 2020. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 115, 2021, S. 477-480. Online: <https://doi.org/10.24894/2673-3641.00100>

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